Liesels Stadt ist wie jede andere. Keiner hat Zeit. Alle sind beschäftigt. Alle – außer Liesel.
Sie ist nämlich dafür zuständig, darauf zu achten, wann es an der Zeit ist, die große Turmuhr für ein paar Augenblicke anzuhalten und den Menschen so die Zeit zu geben, sich zu besinnen. Sich zu entspannen. Sie nennt das „Die Stadt zieht die Stirn kraus“.
Sie bemerkt diesen Zustand, wenn sie aus dem Turm auf die Stadt schaut und sieht, dass sich die Farben alle in Richtung grau bewegen und die Menschen sich nicht mehr um andere kümmern. Wie das aussieht? Nun ja.
Ihr könnt einen kleinen Hund sehen, der wimmert leise, weil er seinen Menschen verloren hat. Oder der ihn. Ein Kind verliert aus seinem Kinderwagen heraus seine Puppe. Die Mutter bemerkt es nicht, weil sie sich unterhält. Auf einem Spielplatz spielt ein einziges kleines Kind ganz alleine. Warum?
Dann ist es allerhöchste Zeit, das Liesel die Zeiger der Uhr anhält. Sobald sie das macht, halten die Menschen in ihrem Tun inne. Und Liesel rennt nach unten und bringt Sachen in Ordnung.
Für heute hat sie ihren Job gemacht. Die Turmuhr kann wieder die Zeit zeigen. Bis zu dem Zeitpunkt, wenn Liesel von oben auf ihre Stadt schaut und bemerkt, dass sich alle Farben ganz langsam in grau verwandeln.
Dann ist es wieder an der Zeit.
Bremen, 8. September 2018