Die allerbeste Zeit, sich Geschichten zu erzählen, ist die Zeit, wenn es schneit und man sich unter eine Decke kuscheln kann. Heute ist so ein Tag. Mira will unbedingt eine Geschichte hören. Und ihr Vater soll sie ihr erzählen.
Ob sie wisse, warum der Schnee weiß ist, beginnt der Vater. Natürlich weiß Mira das nicht. Ich wusste es auch nicht. Also hören wir mal, was der Vater zu erzählen hat.
Irgendwann, vor ganz langer Zeit, war der Schnee durchsichtig. Langweilig, dachte sich der Schnee und machte sich auf den Weg durch die Natur. Sehr gerne hätte er vom Veilchen ein wenig Lila gehabt. Das könnte er sich prima vorstellen. Doch das Veilchen wollte sein Lila nicht hergeben und fand tausend Gründe, die Farbe nicht mit dem Schnee zu teilen.
Die Osterglocke war ebenso wenig freigiebig wie die Sonnenblume. Wäre doch überhaupt kein Problem, wenn man von der eigenen Farbe, die man im Überfluss hat, etwas abgeben würde. Aber nein. Alle sind geizig.
Die Rose hat große Angst, die Gunst der Menschen zu verlieren, wenn sie von ihrem leuchtenden Rot etwas abgeben würde und sagte: Nein.
Glaubt ja nicht, dass irgendeine Blume bereit gewesen wäre, dem Schnee auf der Suche nach einer geeigneten Farbe behilflich zu sein. Selbst die Grashalme und die Sonnenblumen, die Mohnblumen – einfach alles, was blüht, hatte gute Gründe für ein nein.
Der Schnee wollte schon aufgeben und sich seinem Schicksal fügen, weiterhin durchsichtig zu bleiben, als er eine kleine weiße Glockenblume bemerkte. Okay, dachte er, die hier frage ich noch. Dann gebe ich auf. Und zu seinem (und zu unser aller!!) Glück war die kleine weiße Glockenblume bereit, ihm von ihrer Farbe etwas zu überlassen. Endlich hatte der Schnee seine Farbe. Weiß. Und die kleine weiße Glockenblume erhielt ihren Namen: Schneeglöckchen.
Wenn Ihr im Winter, wenn es geschneit hat, durch die Natur geht, werdet Ihr feststellen, dass der Schnee die komplette Natur mit seinem weißen Kleid bedeckt hat. Die komplette Natur? Nein. Die Schneeglöckchen glitzern im Schnee. Aber nur die Schneeglöckchen. Das war das Dankeschön des Schnees an die kleine Blume.
Auf all die anderen, die ihm ihre Farbe verweigerten, ist der Schnee bis heute nicht gut zu sprechen.
Bremen, 1. Oktober 2015