In der Sonne sitzen, die Augen geschlossen, auf Geräusche hören und sich Tagträumen hingeben. Das kann jeder von Euch. Weiß ich. Ich kann das übrigens auch immer noch.
Rosabella ist eine Meisterin darin. Sie träumt sich in Fantasiewelten, kam aber irgendwann immer wieder zurück. Diesmal war es anders. Als sie zurück in die Wirklichkeit will, klappt das nicht so, wie sie es sich vorstellt. Wo war sie bloß? Keine Ahnung. Sie schaut sich um. Irgendjemand wird ihr den Weg nach Hause zeigen. Da war sie sich sicher. Der Rabe könnte helfen. Kann er. Mit einer Aufgabe: Sie muss sechs Schlüssel finden, bevor die Sonne aufgeht. Der Rabe verschwindet. Es bleibt eine schwarze Feder, die der Wind vor sich hertreibt und Rosabella den Weg zu zeigen scheint.
Wind und Feder verschwinden. Eine Mohnblume weist Rosabella den weiteren Weg. Zu einem Kreis aus uralten Bäumen. An einen dieser Bäume lehnt sie sich, um sich auszuruhen. Etwas Goldenes fällt auf ihren Kopf. Ein Buchstabe. Ein L. Sie schaut nach den anderen alten Bäumen, berührt sie und bekommt etwas geschenkt. Buchstaben. Nicht irgendwelche, sondern die Buchstaben R, N und E. Wie Sterntaler, oder?!
Den letzten der uralten Bäume berührt sie. Aber hier bekommt sie keinen Buchstaben. Hier erhält sie eine Einladung, den Baum durch eine plötzlich auftauchende Tür zu betreten. Wie Alice? Eine Treppe. Ein roter Kapuzenmantel. Steht mir, denkt sie. Finde ich auch, sagt eine Stimme. Erschrocken dreht sich Rosabella und und steht vor einem Wolf. Herzrasen. Lauf um dein Leben, Rosabella.
Sie kann entkommen, muss aber in der Eile die sechs geschenkten Buchstaben zurücklassen. Also doch keine Rettung? Verzweifelt weint Rosabella ein paar Tränen, die eine Eule auffängt und sie ihr an einem Band aufgereiht, um den Hals legt und sie tröstet. Eulen sind weise. Das weiß Rosabella. Sie hört auf das Gesagte und versucht, ihrem Verfolger, der am Boden auf sie lauert, zu entkommen. Dazu muss sie den Fluss überqueren, das weiß sie. Wenn sie das schafft, ist sie gerettet.
Rosabella erreicht den Fluss, springt mit all ihrer Kraft auf einen Ast, der wie eine Brücke aussieht. Der Ast ist morsch. Bricht. Rosabella stürzt in die Fluten. Welchen der Hinweise hat sie bloß nicht verstanden? Keine Sorge. Rettung naht. Ein Karpfen, der zum fliegenden Drachen werden kann, wenn er es schafft, einen Tod bringenden Wasserfall nach oben zu springen, rettet ihr Leben und zeigt ihr den Weg zur letzten Station des Rätsels. Übrigens: An welches Märchen erinnert Euch diese letzte Station und der Apfel, in den Rosabella beißt?
Nina da Lua und Joana Santamans aus Barcelona sind zwei unvergleichlich kreative Menschen. Die eine jongliert mit Wörtern, ist Schriftstellerin, Erzählerin, Radiofrau und Sängerin. All diese Fähigkeiten von Nina da Lua zusammen ergeben eine etwas andere Geschichte, die uns in Teilen an Märchen erinnert, die wir kennen.
Joana Santamans war als Kind eher auf Bäumen anzutreffen, als am Boden. Ihre Zeichnungen sind zart und wunderschön. Man erkennt, dass sie die Dinge, die sie zeichnet, ziemlich genau studiert hat, bevor sie mit ihrer Arbeit beginnt. Und genau das machen ihre Zeichnungen aus.
Bremen, 18. Oktober 2017