Ich habe gerade die letzte Seite eines kleinen feinen Buches gelesen. Die Geschichte hat mich sehr berührt. Sie erzählt von Michael, einem kleinen Jungen, der Angst vor dem Besuch seines Großvaters hat. Nicht, dass er oft zu Besuch käme. Der Weg wäre zu weit. Aber wenn er kommt, fürchtet sich Michael vor seinem Besuch. Denn man hat ihm verboten, ihn anzusehen.
Also versucht er, sich daran zu halten. Leider gelingt ihm das nicht lange. Irgendwann ertappt ihn seine Mutter dabei, dass er Großvater anstarrt. Das macht er nicht, weil das Gesicht des Großvaters entstellt ist und ihm Finger an beiden Händen fehlen. Michael fürchtet sich, weil weder seine Mutter noch sein Vater darüber sprechen, was mit Großvater geschehen ist.
Schlimmer noch. Sie selbst sehen ihn auch nicht an. Sie übersehen die „Entstellung“, in dem sie ihn einfach nicht ansehen.
Wie schrecklich das für den Großvater ist, erfährt Michael erst, als er älter ist und ihn in seinem Cottage auf den Scilly-Inseln besucht. Michael ist gerne mit seinem Großvater zusammen. Beide fischen gern.
Bei einem der Angelausflüge beginnt der Großvater, Michael zu erzählen, was er im Krieg erleben musste und wie er gerettet worden war. Michael hört zu, unterbricht ihn nicht. Zum Schluss dankt der Großvater seinem Enkelsohn, dass wenigstens er ihn immer angesehen hat. Er hat so lange darunter gelitten, dass die Menschen ihn nicht mehr ansehen, dass seine Annie ihn verlassen hat, weil auch er sich nach dem Krieg und dem Erlebten verändert hatte.
Michael beginnt zu verstehen, wie schlimm es ist, wenn man Dinge nicht benennt. Wenn man sie verschweigt und versucht, sie zu übergehen. Dass das nicht funktioniert, erzählt diese wunderbare Geschichte sehr leise und sehr intensiv.
Ich empfehle Euch dieses kleine Buch. Nehmt Euch diese Geschichte zu Herzen und versucht, Dinge anzusprechen, auszusprechen – damit Freundschaften oder Familien nicht auseinanderbrechen.
Ich selbst weiß, wie es ist, wenn ein Großvater, der zwei Weltkriege erlebt hat, dazu schweigt. Dabei hätte ich so viele Fragen gehabt.
Bremen, 29. Mai 2015