Martha

von Atak
Aladin Verlag
2016, 36 Seiten
Altersempfehlung: ab 5 Jahren
Preis: 19,95 Euro

Es hat eine Zeit gegeben, da flogen Millionen, ja Milliarden von ihnen von Kontinent zu Kontinent. Noch bis zum Anfang des letzten Jahrhunderts haben diese gewaltigen Schwärme von Wandertauben den Himmel verdunkelt. Bis auf Martha sind alle tot. Martha erzählt, wie es dazu gekommen ist. Sie erzählt eine wahre Geschichte.

Ihr müsst sehr genau hinsehen, wenn Ihr Martha in dem Schwarm der Tauben entdecken wollt, der über Nordamerika zieht. Kleine Hilfe: Sie ist die fünfte von rechts. Gefunden? Prima.

Schließt Eure Augen. Hört Ihr das auch? Ein derart großer Schwarm von Vögeln bewegt sich nicht gerade leise voran. Und wenn sie alle mal „müssen“, gibts einen Kotregen. Gut für den, der nicht getroffen wird.

Das war noch zu Zeiten, als die Menschen mit Respekt in den Himmel geschaut haben. Wandertauben hat man Martha und all die anderen genannt. Einige Menschen haben versucht, sie zu zählen. Ohne Erfolg. Es waren immer zu viele und sie waren zu schnell. Andere haben sie in Öl gemalt. Vielleicht gibt es ja sogar Gedichte oder Musikstücke über Martha und all die anderen.

Wir wissen: Lebewesen müssen essen. Auch Wandertauben. Sie haben sich auf den Feldern der Bauern von Weizen und Reis ernährt, in den Wäldern von Bucheckern und Eicheln. Wenn sie sich gepaart hatten, bauten sie in den Wäldern ihre Nester in die Astgabeln der Bäume.

Für eine lange Zeit hatten die Wandertauben ein sehr schönes, sicheres Leben. Mit Heuschreckenplagen, Hagelstürmen und Orkanen änderte sich alles. Die Landwirte bewirtschafteten ihre Felder plötzlich anders als jemals zuvor. So kam es, dass auch die Anwesenheit und die Bedürfnisse der Wandertauben das Bild der Landwirtschaft veränderten. Und somit das Leben der Menschen.

Die Menschen begannen, Tauben zu essen. Zu Tausenden holen die Jäger die Wandertauben mit Gewehren vom Himmel und verkaufen sie auf den Märkten der Bauern. Ein allerletztes, gut geschütztes Nest wurde per Zufall von einem Indianerhäuptling entdeckt und in Sicherheit gebracht. Nur wenig später erschießt ausgerechnet ein kleiner Junge die allerletzte freilebende Wandertaube.

Irgendwann sind nur noch drei übrig. Sie leben in einem Zoo in Cincinnati in Amerika. Eine nach der anderen stirbt an Altersschwäche. Dann ist Martha allein. Menschen, die vor gar nicht langer Zeit Millionen Wandertauben vom Himmel geschossen haben, weil sie sie für eine Plage hielten, stehen nun staunend vor Marthas Käfig und bewundern sie und ihre Schönheit. Sie geben ihr sogar den Namen der Frau des ersten amerikanischen Präsidenten. Sie ist für lange die letzte lebende Wandertaube.

Martha stirbt am 1. September 1914 im Zoo von Cincinnati. Sie ist heute, ausgestopft, im Bestand des Smithsonian Museum of Natural History in Washington, D.C.

Eine traurige Geschichte. Wenn man aber eine traurige Geschichte mit Zeichnungen in wunderschönen Farben schmückt, tut der Schmerz über den Verlust von Martha und all den anderen Wandertauben und die Dummheit der Menschen nicht ganz so weh.

Bremen, 29. April 2016