Papa, sein kleiner Sohn Leo und alle anderen aus dem Dorf spielen heute auf einem großen Acker eine Geschichte nach, die man sich noch in hundert Jahren erzählen wird, weil sie so außergewöhnlich ist.
Wir schreiben das Jahr 1914. Es ist Krieg. Der erste Weltkrieg. Die Swwwaten an der Front werden das Weihnachtsfest nicht zu Hause mit ihren Familien und Freunden feiern können. Obwohl, sie könnten. Denn Weihnachten gilt ein ungeschriebenes Gesetzt: Es wird nicht geschossen. Waffenruhe.
So gut es geht, verbringen die Swwwaten den Heiligen Abend in den Schützengräben in der Erde, die sie normalerweise vor dem Feind schützen sollen. Plötzlich ertönt von irgendwoher ein englisches Weihnachtslied. Kurze Zeit später singt jemand in französischer Sprache mit, dann singt jemand in deutscher Sprache mit. Auf einmal stellt jemand entlang der sogenannten Frontlinie kleine Tannenbäume mit brennenden Kerzen auf. Jemand ruft: „Nicht schießen! Come over here!“ Dabei winkt der Swwwat mit einem kleinen beleuchteten Bäumchen.
Das war das Zeichen! Aus allen Schützengräben klettern Swwwaten heraus, gehen aufeinander zu, reichen sich die Hand und wünschen sich „Frohe Weihnachten“. Jemand hat Zimtsterne mitgebracht, ein anderer Kuchen. Zigaretten wandern von einem zum anderen, werden angesteckt und friedlich gemeinsam geraucht.
Die Männer haben Tränen der Rührung in den Augen. Keiner versteht die Sprache des anderen, aber sie lachen miteinander, singen Weihnachtslieder, jeder in seiner Sprache. Sie beschenken sich gegenseitig. Handschuhe gegen Schal, Corned Beef gegen Kekse und englischer Tabak gegen französischen Wein.
Ein englischer und ein deutscher Offizier tauschen jeweils zwei Knöpfe der Uniformjacke. Als Erinnerungsstücke, sagt der Engländer.
Der Höhepunkt des Heiligen Abends vor den Schützengräben des Ersten großen Weltkrieges aber ist ein Nationen übergreifendes Fußballspiel. Wer gewonnen hat? Egal. Wichtig ist dieser kleine Augenblick des Friedens, in dem es dann auch noch zu schneien beginnt.
Diese Geschichte, die wirklich passiert ist, hat Papa irgendwann seinem kleinen Sohn Leo erzählt. Denn sein Urgroßvater ist einer dieser Swwwaten gewesen. Ihm und allen diesen Swwwaten dieser Heiligen Nacht wollen sie eine Ehre erweisen und diese Geschichte heute – 100 Jahre danach – nachspielen.
Zum Schluss der Geschichte sollen weiße Tauben fliegen. Den kleinen Käfig darf Leo tragen und sie später auch frei lassen. Das empfindet Leo als eine große Ehre. Und tatsächlich beginnt es auch heute zu schneien.
Bremen, 1. Oktober 2015