Djadi ist vielleicht elf, als er an der Hand von Jan sein neues Zuhause kennen lernt. Dass es das sein wird, weiß Djadi noch nicht. Auch die Wohngemeinschaft weiß das zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Denn Djadi platzt eher unangekündigt in die Wohngemeinschaft.
Die Wohngemeinschaft, das sind sechs schon ältere Erwachsene. Sie haben vor ziemlich langer Zeit eine Etage in einem Altbau gemietet, sie umgebaut und leben und arbeiten seither als WG zusammen.
Einer von ihnen ist Jan. Er arbeitet in der Jugendhilfe. Dort hat er Djadi entdeckt. Man sagt ihm, er sei ein unbegleitetes Kind aus Syrien, aus Homs. Auf der Flucht übers Meer vor dem brutalen Krieg in Syrien hat er wohl Eltern und Geschwister verloren. Fremde Landsleute haben sich um ihn gekümmert. Jetzt ist er allein. Jan hat ihn gesehen, seine Hand genommen und ihn mitgebracht.
Der Junge braucht Schutz, sagt er. Wenn das so ist, sagen die anderen, soll er bleiben. Natürlich muss er all die Prozeduren über sich ergehen lassen, die alle Geflohenen durchlaufen müssen. Ämter, Arzt, Papiere, Fragen, Fragen, Fragen und vor allen Dingen Hass, Ausgrenzung und Vorurteile.
Djadi durchlebt all das im Schutz und der Geborgenheit seiner WG-Familie. Besonders Wladi, der schon 75 Jahre alt ist und früher Lehrer war, kümmert sich liebevoll um Djadi. Für den Jungen ist der alte Mann alles, was er nicht mehr hat: Ein eigenes Haus mit Garten, Vater, Mutter, Großvater, Geschwister, ein schönes ruhiges und behütetes gutes Leben in seiner Heimatstadt Homs.
Mit Wladis Hilfe lernt Djadi sehr schnell unsere Sprache, besucht die Schule und erfährt irgendwann, dass auch Wladi mal auf der Flucht gewesen ist. Das war nach dem Zweiten Weltkrieg.
Djadi lernt unser Leben und unsere Kultur kennen. Er lernt, dass er vor dem Meer keine Angst mehr haben muss, dass man, wenn man für ein paar Tage in Urlaub fährt, wieder nach Hause zurückkehrt. Er lernt, mit Menschen umzugehen, die sich ihm gegenüber ablehnend verhalten. Djadi ist klug und lernt schnell.
Doch dann stellt das Leben Djadi noch ein Mal vor eine große Prüfung.
Peter Härtling schreibt wunderbare Romane für Kinder. Mit „Djadi“ gibt er Euch einen Einblick in die Seele eines kleinen Jungen, der mit ansehen muss, dass seine Familie vor seinen Augen ertrinkt. Das lässt ihn lange Zeit nicht sprechen. Erst als er Vertrauen fasst, öffnet er sich für die Menschen, die sich um ihn kümmern und die für ihn eine neue „Familie“ sein wollen.
Djadis Geschichte berührt. Keines der Kinder, die zu uns kommen, hat es verdient, dass man es schlecht behandelt, beschimpft und ausgrenzt. Eine Gesellschaft ist nur so gut, wie sie sich um die Schwächsten kümmert. Das sollten wir niemals vergessen.
Bremen, 26. September 2016