Die Fabel von Fausto

von Oliver Jeffers
NordSüdVerlag
2020, 96 Seiten
Altersempfehlung: ab 5 Jahren
Preis: 18,00 Euro

Nennen wir ihn wie das Buch: Fausto.
Aber im richtigen Leben hat er – wie wir alle wissen – viele verschiedene Namen. Aber gut.

Fausto gehört zu den Männern, die fest davon überzeugt sind, dass alles, was sie mit ihren beiden Augen sehen können, ihnen unwidersprochen gehört. Und weil das so ist, muss Fausto sich gerade mal auf den Weg machen, um sich anzusehen, was alles dazugehört.

Als erstes sieht er eine Blume. „Du bist mein Eigentum!“ sagt Fausto. „Bin ich.“ sagt die Blume und verneigt sich vor ihm. Zum Dank bricht Fausto der Blume die Blüte ab und heftet sie sich ins Knopfloch seiner Jacke. Das ist Macht.

So geht das immer weiter. Berge, Flüsse, alle Tiere, einfach alles verneigt sich vor seiner Macht. Selbstherrlich genießt Fausto, wie sich die Welt vor ihm verneigt und auf seine Befehle wartet. Aber wie das so ist mit der Macht. Es ist nie genug. Fast alles reicht nicht. Es muss alles sein.

Fausto ist unzufrieden. Er schaut sich um. Alles gehört ihm. Wirklich alles, Fausto? Nein. Es fehlt noch etwas. Richtig. Das Meer.

Also schnappt sich Fausto ein Boot und fährt hinaus aufs Meer. Weit genug vom Ufer entfernt, bringt er sich in Position und ruft, so laut er kann: „Meer, du gehörst mir!“ Das Meer schweigt. Fausto wiederholt seinen Machtanspruch. Immer wieder. Immer lauter. Immer energischer.

Dann antwortet ihm das Meer, leise und sehr sanft: „Nein, ich gehöre dir nicht! Du liebst mich nicht ein mal!“ Woher kommt die Stimme des Meeres? Zum ersten Mal ist Fausto leicht verunsichert, weil er kein Gegenüber sieht.

Fausto wird ungeduldig. Was sollen die Spielchen? All die anderen waren viel schneller zu beherrschen, haben sich vor ihm verneigt und gut. Das hier ist etwas anderes. Das ist Fausto klar. Hier helfen ihm seine Lügen nicht und seine Schmeicheleien. Hier muss er mit harter Hand dem Meer zeigen, wer hier das Sagen hat.

Fausto droht dem Meer, es zu besteigen, mit dem Fuß aufzustampfen und ihm die Faust zu zeigen, um seinen Machtanspruch zu demonstrieren. Das Meer spielt dieses Spiel mit, wohl wissend, wer hier gleich verlieren wird. Denn leider kann Fausto nicht schwimmen.

Machtanspruch hin oder her: Die Welt dreht sich auch ohne Fausto.

Bremen, 20. April 2020