„Unser Auto wurde komplett geschrottet, mit uns allen drin. Und natürlich wollte ich nicht dort sein. Wenn ich gekonnt hätte, hätte ich mir die Fernbedienung geschnappt und diese ganze schreckliche Geschichte einfach weggezappt. Und dann wäre ich losgerannt zum nächstfernen Ort und für immer dort geblieben. Doch das ging nun mal nicht. Weil da noch andere Leute mit mir in diesem Film waren. In diesem Auto. Und einer von ihnen brauchte mich.“
Dylan, sein Bruder Griff und Mum und Dad leben aus Koffern. Reisen und unterrichten sich durch die Welt. Eigentlich sind sie Engländer. Darauf muss Mum hin und wieder hinweisen, wenn Dylan und Griff mal wieder typisch amerikanisch vor sich hinfluchen.
Den Brüdern gefällt dieses Leben. Nicht alle Gleichaltrigen haben schon fast die ganze Welt gesehen und die unterschiedlichsten Kulturen kennengelernt. Gerade fahren sie mit ihrem Leihwagen auf dem Highway Richtung Brooklyn zur neuen Arbeitsstelle und die Frage steht im Raum, ob es nicht an der Zeit sein könnte, endlich sesshaft zu werden. Könnte es. Gegebenenfalls. Sicher. Sagen die Eltern.
Ihre Eltern sind anders als andere Eltern, aber ziemlich außergewöhnlich und cool, finden die Brüder. Die gute Laune der Vier, der Streit darum, ob Öko-Dad nun die Klimaanlage höher dreht oder es bleiben lässt, die Vorfreude auf Brooklyn und die kleinen liebevollen Zickigkeiten der Brüder untereinander enden von einer Sekunde zur nächsten in einem schweren Unfall, den die Eltern nicht überleben.
Offenbar sind Dylan und Griff die einzigen Überlebenden. Griff muss verletzt im Krankenhaus behandelt werden. Er erfährt erst später vom Tod der Eltern. Dylan scheint, bis auf ein paar Schrammen, unverletzt zu sein. Der Verlust der Eltern ist schrecklich für die Brüder und stellt sie vor unüberwindbare Probleme.
Während Griff verzweifelt versucht, irgendwie mit dem Tod der Eltern klar zu kommen, ist Dylan Tag und Nacht an seiner Seite. Er fühlt sich verantwortlich, will ihn um jeden Preis schützen, damit er langsam ins Leben zurück finden kann.
Das gelingt ihm ganz gut. Dabei hat er Hilfe. Im Krankenhaus und später kümmert sich ihre Schulleiterin um sie. Nachdem sie eine kurze Zeit bei ihr und den beiden Mitbewohnern Kater und Hund leben können, findet sich eine Verwandte von Mum aus Wales, die sich um sie kümmern möchte.
Also Wales. Dee und ihr Mann Owen tun alles, damit es ihnen gut geht. Und dann ist da noch Powell, der seine Frau Shirley verloren hat und im Rollstuhl sitzt, mit dem Griff sich nach und nach anfreundet. Dass Griff sich Powell gegenüber öffnen kann und von dem schrecklichen Unfall, dem Tod seiner Eltern erzählt, liegt daran, dass Powell ein Musikliebhaber ist, wie sein Dad es war. Musik ist ein Wunder, sagt Powell. Sie kann alles.
An einem dieser gemeinsamen Tage verschwindet Dylan kurz mal im Garten und setzt sich auf eine Bank. Unvermittelt macht er die Bekanntschaft einer sehr netten Dame. Im Gespräch stellt sich heraus, dass es Shirley ist, Powells verstorbene Frau, die er immer noch schmerzlich vermisst. Shirley ist immer noch hier, damit sie sich um den Garten kümmern kann, sagt sie.
„Ich kann einfach nicht loslassen“, sagt sie irgendwann zu Dylan. „Ich muss in der Nähe bleiben – ich muss doch ein Auge auf Powell haben.“ Und Dylan versteht. Stellt sich einer Tatsache, vor der er lange die Augen verschlossen hatte, aus Sorge um Griff.
„Du passt auf Griff auf und schwimmst im Meer der Zeit auf der Stelle – genau wie ich.“ sagt sie.
Und plötzlich verstehe auch ich, die ich die Geschichte bisher gelesen und die Figuren begleitet hat, Dylans seltsames Verhalten – hier und da. Und – ich verstehe den Satz von Albert Einstein, der, wie auch ich, irgendwann jemanden geliebt und verloren hat: „Wer wie wir an die Physik glaubt, weiß, dass die Unterscheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nichts als eine besonders hartnäckige Illusion ist.“
Dylan nimmt mich mit, zurück zum Augenblick des Unfalls. Und ich verstehe.
Hayley Long studierte an der Uni von Aberystwyth Englische Sprache und Literatur und legt uns ihren zweiten Roman bei den Königskindern ans Herz.
Ausdrücklich danken möchte ich Josefine Haubold für die Übersetzung. Sie hat Anglistik und Germanistik in Dresden studiert und arbeitet als freie Lektorin und Übersetzerin aus dem Englischen (unter anderem von Nellie Bly und Tennessee Williams). Ich selbst bin keine studierte Literaturwissenschaftlerin – aber ich glaube zu erkennen, wann eine Geschichte großartig übersetzt wurde. Danke dafür.
Bremen, 15. April 2018