Es geschieht nicht so oft, dass eine Romanfigur mich auf den ersten Seiten derart berührt. Das liegt mit Sicherheit an der Art und Weise, wie Robin Roe, die Autorin, Julians Geschichte von zwei Seiten erzählen lässt. Und an der großartigen Übersetzung.
Julians Geschichte, die nach seiner langen Leidenszeit mit Millionen von Sternen und in einer guten Umgebung enden wird, hat mich wütend, aber auch sehr nachdenklich gemacht.
Wie viele Kinder und Jugendliche mag es geben, die ähnliches Leid ertragen müssen und niemand in der unmittelbaren Umgebung spürt etwas, weil die Jugendlichen selbst mit der Zeit so gute Lügner werden, dass sie ihr Umfeld perfekt zu täuschen in der Lage sind.
Schaut genau hin. Im Freundeskreis. In der Klasse. Fragt nach, wenn Euch etwas komisch vorkommt. Macht es so wie Adam. Auch, wenn es schwer ist.
Immer dann, wenn Julians Vater ihn abends fragte, wie viele Sterne sein Tag hatte, fiel die Antwort unterschiedlich aus. Mal waren es wenige, oft viele und dann gab es diese Antwort, wenn er am glücklichsten war: Es sind zu viele, um sie zu zählen. Zehn Millionen Sterne. Das war Julians glückliche Zeit. Das ist lange her.
Mit dem Tag, an dem Julians Eltern bei einem Autounfall sterben, lebt er in einer Pflegefamilie. Was ihm bleibt, ist der große Schrankkoffer mit Familienerinnerungen. Doch das Zusammenleben scheint auf Dauer nicht zu funktionieren. Also muss eine Änderung her.
Sein Onkel Russell nimmt ihn auf. Was Julian zu diesem Zeitpunkt nicht weiß: Russell hat ihn mit fragwürdigen Argumenten aus der Familie geholt und Julian in dem Glauben gelassen, es sei seine Schuld, dass er die Familie verlassen muss. Er würde zu viele Probleme machen.
Was Julian nicht weiß: Sein Onkel Russell ist seit Jahren arbeitslos. Er ist ein Krimineller, der sehr genau weiß, dass Julians Eltern ihm Geld hinterlassen haben, damit es ihm im Notfall gut geht. Geld, dass Russel sich erschleicht und verprasst. Wer glaubt, Russell würde seinen Neffen gut behandeln und für ihn sorgen, sieht sich getäuscht. Im Gegenteil.
Russel ist ihm gegenüber gewalttätig und misshandelt ihn beim kleinsten Anlass.
Kein Wunder also, dass Julians Verhalten in der Schule eher auffällig als normal ist. Aber keinem fällt etwas auf. Immer dann, wenn Russell ihn verprügelt hat, findet er später 20 Dollar in seinem Zimmer. Das ist das Zeichen für ihn, dass er nicht zur Schule muss und sich Essen bestellen darf. Klar, dass er in den Augen der Schulleitung, der Lehrer und seiner Freunde aus Faulheit die Schule schwänzt und sich mit Lügen aus brenzligen Situationen zu retten versucht.
Niemand in seinem sozialen Umfeld ahnt, was Julian durchmacht. Würde er doch nur einen Lehrer oder einen Schulfreund ins Vertrauen ziehen. Aber das macht er nicht.
Selbst Adam, sein ehemaliger Pflegebruder, den er in der Schule wieder sieht, kann sein Vertrauen nicht wirklich gewinnen.
Viele Dinge passieren, auf die Adam, seine ehemalige Pflegemutter und seine Freunde sich mit der Zeit keinen Reim machen können. Bis zu dem Tag, an dem Julian verschwindet und Adam seltsam unruhig wird.
Er schleicht sich eines Nachts zu Russells Haus, um nach Julian zu sehen. Als niemand die Tür öffnet, bricht er ins Haus ein, sucht nach Julian und findet seinen ehemaligen Pflegebruder. Abgemagert, ausgetrocknet, fast verhungert und völlig verwirrt. Eingesperrt. In einem Schrankkoffer.
Julians Leben hängt an einem seidenen Faden.
Bremen, 4. April 2017