Wenn der Autor Allen Say an seine Kindheit in Japan denkt, denkt er an Kamishibai. Das bedeutet „Papiertheater“.
Jeden Nachmittag kam der Kamishibai-Mann auf seinem Fahrrad, auf dessen Gepäckträger ein großer hölzerner Kasten montiert war. Der Kasten hatte Schubladen voller Süßigkeiten und oben eine Bühne. Die Kinder kauften Süßigkeiten und lauschten den Geschichten des Mannes.
Während er die Geschichten erzählte, zog der Kamishibai-Mann vorn in der Bühne eine Bildkarte nach der anderen heraus und steckte sie hinten ein, so, als würde er ein Kartenspiel mischen. Und tatsächlich waren die Geschichten eine einzige unendliche Geschichte, bei der jede Aufführung endete, wenn der Held oder die Heldin gerade an einer Klippe hing oder über dieselbe gestoßen wurde. Dann sagte der Kamishibai-Mann: „Fortsetzung folgt!“. Die Kinder stöhnten auf, denn sie wussten genau, dass Held oder Heldin erst am nächsten Tag gerettet wurden, damit sie neue Abenteuer bestehen konnten.
Man sagt, Kamishibai habe in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts begonnen. Tatsächlich ist es Teil einer langen Tradition des Geschichtenerzählens mit Bildern in Japan.
Von einem solchen Kamishibai-Mann handelt dieses wunderschöne Buch. Der Kamishibai-Mann ist schon länger nicht mehr mit seinem Fahrrad und all den Geschichten unterwegs gewesen. Kein Wunder. Er lebt im Hier und Jetzt. Also in unserer Zeit. Aber er hat immer noch Lust, Kindern Geschichten zu erzählen. Schließlich ist er gesund und seine Frau macht immer noch die allerbesten Süßigkeiten der Welt.
Er macht sich auf den Weg zu den Kindern. Aber eines irritiert ihn. Er findet zwar die alten Wege noch, aber alles um ihn herum sieht fremd und anders aus.
An einer Brücke hält er an und baut sein „Papiertheater“ auf, beginnt mit seiner Vorstellung und ist augenblicklich wieder der junge Mann, der er ein Mal war, damals, als er den Kindern all seine Heldengeschichten erzählt hat. Aber da ist auch die Erinnerung daran, dass ihm mit der Zeit immer weniger Kinder zuhören wollten. Fernsehen war wichtiger geworden als seine Geschichten. Das war der Tag, an dem er beschloss, dass er kein Kamishibai-Mann mehr sein wollte, weil Traurigkeit und Enttäuschung zu groß waren. Er schwor, dass das sein allerletzter Tag als Kamishibai-Mann gewesen ist. Die Zeit hat ihn überflüssig werden lassen. Man brauchte ihn wohl nicht mehr.
Jetzt stand er mit seinem Fahrrad, seinen Süßigkeiten und seiner Bühne in einer Umgebung, die ihm fremd war. Um ihn herum eine Traube von Erwachsenen, denen er von seinem letzten Tag und dem letzten Kind erzählte, dem er damals seine Geschichten erzählte.
Plötzlich ruft aus der Menge ein Mann: „Ich war dieser Junge!“ Augenblicklich verschwinden Traurigkeit und Enttäuschung. All diese Erwachsenen, die vor ihm stehen, sind mit seinen Geschichten groß geworden, erzählen sie. Und diese wunderbaren Süßigkeiten. Ob er sie noch hätte?
Niemand hätte jemals glücklicher sein können, als er. Der Kamishibai-Mann. Kommt er am nächsten Tag wieder in die Stadt? Seht selbst nach. Vielleicht findet Ihr ihn ja. Und vergesst nicht, ihn nach den Süßigkeiten zu fragen, okay?
Bremen, 19. September 2018