„Vor langer, langer Zeit lebte in einem unterirdischen Reich, in dem es weder Lügen noch Schmerz gab, eine Prinzessin. Sie träumte von der Welt der Menschen. Von einem blauen Himmel, von der Sonne und dem Gras und dem Geschmack des Regens. Als sie ihren Wächtern entkam und in unsere Welt gelangte, vergaß sie, wer sie gewesen und woher sie gekommen war. Ihr Vater hörte nie auf, nach ihr zu suchen. Er wusste, dass ihre Seele unsterblich war und dass sie eines Tages zu ihm zurückkehren würde. In einem anderen Körper, einer anderen Zeit. Vielleicht an einem anderen Ort. Er würde auf sie warten. Bis ans Ende der Zeit.“
Guillermo del Toros oskarprämiertes Meisterwerk „Pans Labyrinth“ ist die Vorlage für Cornelia Funkes Roman „Das Labyrinth des Fauns“, der entstanden ist, weil Guillermo del Toro Cornelia Funke eines Tages fragte, ob sie den Film zu einem Buch machen könne.
Cornelia Funke empfindet das als Herausforderung, von der sie sich wünscht, ihr gewachsen zu sein. Sie beginnt, sich den Film Sekunde für Sekunde anzuschauen, alles in sich aufzunehmen: Jede Geste, jedes Wort, die Arbeit der Schauspieler, der Maskenbildner und der Designer und gibt allem die richtigen Worte.
Die Geschichte spielt im Spanien des Jahres 1944.
Ofelia und ihre schwangere Mutter ziehen in die Berge zum neuen Stiefvater, der mit seiner Soldatentruppe dort stationiert ist und Gegner des Regimes bekämpft.
Der Wald, der ihr neues Zuhause umgibt, wird zu Ofelias Zufluchtsstätte werden. Dort findet sie verzauberte Orte und magische Wesen. Hier fühlt sie sich vor ihrem Stiefvater und seinen Soldaten sicher.
Eines Tages begegnet sie einem Faun. Er ist schon so lange auf der Suche nach der verschwundenen Prinzessin seines Reiches. Er glaubt, sie in Ofelia gefunden zu haben und wird ihr drei Aufgaben stellen. Besteht sie diese, ist sie die Tochter, auf die Königin und König schon so lange warten.
Ofelia wird sich immer tiefer in eine phantastische Welt begeben, um die drei Aufgaben zu bewältigen.
Beim Lesen bin ich augenblicklich zur Verbündeten von Ofelia, ihrer Mutter und ihrem noch ungeborenen Bruder geworden, auf den der gewalttätige Stiefvater so sehr wartet. Doch es dauert seine Zeit, bis ich schlussendlich aufatmen kann, denn bei einer der Aufgaben scheitert Ofelia und bringt damit andere in große Gefahr.
Dem Buch liegt ein Brief an jeden von uns bei, den die Autorin wie folgt beschließt:
„Ich bin nie stolzer auf ein Buch gewesen. Es hat mich unendlich viel gelehrt, und die Geschichte, die es erzählt, berührt mich immer wieder aufs Neue mit ihrem Bekenntnis zu Verantwortlichkeit und menschlichem Mut und der Verpflichtung, sich dem Bösen entgegenzustellen, auch wenn das große Opfer verlangt. Diese Botschaft war nie wichtiger, und sie ist so aktuell, wie sie es in der Zeit war, in der das Buch spielt.“
Vor mir liegt ein Meisterwerk!
Bremen, 9. Juli 2019