Die Autorin Katya Balen weiß viel über Autismus.
Sie hat sich bereits im Rahmen ihres Studiums mit dem Einfluss von Geschichten auf das Verhalten von autistischen Kindern beschäftigt. Sie hat an verschiedenen Förderschulen gearbeitet und ist Mitgründerin von Mainspring Arts, einer Organisation, die mit autistischen Menschen kreativ arbeitet. Katya Balen lebt in England.
Franks Geschichte beginnt, als er zehn ist.
Eigentlich ist es nicht nur Franks Geschichte. Sondern auch die seiner Eltern, seiner Schulfreunde, die Geschichte seines kompletten Universums, das mit jeder gelesenen Seite aus den Fugen gerät. Und es ist die Geschichte von von Max.
Max wurde vor fünf Jahren in die Familie hineingeboren. Da war noch alles wie immer: Großer Bruder, kleiner Bruder, ein bisschen Eifersucht auf den Nachkömmling, weil die Aufmerksamkeit der Eltern sich mehr auf Max verlagerte. Dann, je älter Max wurde, war erkennbar, dass Max anders war als andere Babys.
Die Diagnose des Arztes, die die Eltern fassungslos aufnahmen: Max ist Autist. Max wird immer anders sein, als andere.
Vom Tag der Diagnose an braucht Max eine feste Struktur für den Tag. Gerät die durcheinander, gerät Max‘ Leben durcheinander und er verhält sich so, dass es zu peinlichen Zwischenfällen kommt. Im Supermarkt, beim Besuch der Nachbarn. Aber auch zuhause.
Beim Lesen kam mir immer wieder der Gedanke: Muss Frank damit eigentlich klaglos klar kommen? Darf er laut und egoistisch, beleidigt auf sich aufmerksam machen, weil er fürchtet, vergessen zu werden?
Dass allerdings auch seine Eltern unter Aufbringung all ihrer Kräfte lernen müssen, mit Max Autismus umzugehen, bemerkt er zwar und das tut ihm auch irgendwie leid. Dass seine Mutter immer blasser und kraftloser wirkt, seit Max auf der Welt ist, sieht er auch. Aber das macht ihn noch wütender auf seinen kleinen Bruder.
Und trotzdem lacht er mit, wenn die Kumpels auf dem Schulhof beim Fußballspielen in den Pausen über Max Autismus lachen. Und gleichzeitig schämt er sich für sein Benehmen, weil er weiß, dass es falsch ist. Aber er ist halt auch erst zehn!
Und sein Universum gerät weiter ins Trudeln. Unaufhaltsam.
Als er eines Tages auf dem Rückweg von seinen Freunden mit dem Fahrrad in seine Straße einbiegt und jede Menge Blaulicht und fremde Menschen vor seinem Elternhaus sieht, bekommt er unglaubliche Angst. Er darf nicht ins Haus. Er sucht nach seiner Ma. Findet sie nicht. Irgendwann sagt ihm jemand die Wahrheit: Seine Ma war sehr krank. Hatte einen Hirntumor. Hatte immer wieder Krampfanfälle, die die Eltern geschickt vor Frank verheimlicht hatten. Sie hatten ihm das verschwiegen, weil sie dachten, dass er es mit der neuen Familiensituation eh schon schwer genug hat. Sie wollten es ihm sagen, wenn die Mutter die Erkrankung besiegt hätte.
Seine Ma war in der Küche zusammengebrochen und verstorben. Frank ist fest davon überzeugt, dass Max daran die Schuld trägt.
Mir sind beim Lesen sehr oft die Tränen gekommen. Warum? Weil es mir fast das Herz zerrissen hat, welche übermenschliche Kraft dieser zehnjährige Junge aufbringt, sein kleines Leben mit seinen Eltern und Max und dann ohne seine geliebte Ma weiterzuleben und gleichzeitig seinem kleinen Bruder immer näher zu kommen.
Mit Franks Worten will ich aufhören:
„Ich bin nicht mehr der Frank, der mit den Jungs im Park gelacht hat und nichts gegen diese Frechheiten sagen konnte. Und ich bin nicht mehr der arme, mutterlose Frank und ich bin auch nicht mehr ein Teil von etwas, das auseinander bricht.
Wir sind unsere eigene Spiralgalaxie und wirbeln durchs All und sind aus Sternenstaub gemacht, wie alle anderen auch. Ma hatte Recht. Der Code, der uns zusammenhält, ist etwas viel Größeres, Besseres, Schwereres, Geheimnisvolleres und Schöneres.
Ich bin Frank und er ist Max.
Er ist mein Bruder.
Und genau dich, Max, habe ich lieb.“
Das Nachwort gehört Stephen Hawking: „Das Universum wäre vergleichsweise uninteressant ohne die Menschen, die wir lieben.“
Bremen, 8. September 2019