Auf dieses Buch passt ein Satz von Franz Kafka: „Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.“ Besser kann man „Nicht weg und nicht da“ nicht beginnen. Finde ich. Denn diese Geschichte bricht in mir als Leser Unfassbares auf und lässt mich mit Tränen zurück. Ich habe an vielen Stellen des Buches geweint und selbst die Autorin schreibt im Nachwort, das ich erst später gelesen habe, dass sie beim Erzählen von Luises und Kristophers Geschichte geweint hat. Jacob darf ich nicht vergessen, zu erwähnen. Er wird wichtig für Luise.
Von Anne Freytag findet Ihr auf meiner Seite auch ihren ersten Roman „Mein bester letzter Sommer“, der 2017 für den Jugendliteraturpreis nominiert wurde. Sie hat eine ganz besondere Gabe, ernste Geschichten so kühl-emotional zu erzählen, dass man sich davon magisch angezogen fühlt.
„Nicht weg und nicht da“ ist ihr zweiter Roman. In ihren Geschichten geht es meistens um Entscheidungen, schreibt sie. „Die, die wir treffen und die, die wir nicht treffen. Es geht immer darum, warum man etwas nicht tut und was einen zurückhält. Bremsen wir uns selbst? Oder übergeben wir die Zügel an andere Menschen – oder doch an die Angst?“
Kristopher geht freiwillig aus dem Leben und lässt eine völlig verstörte Schwester zurück. Wie geht Luise mit dem großen Verlust um? Wie ihre Mutter? Luise greift zum Haarschneider und stutzt ihre Mähne auf drei Millimeter herunter. Ihre Mutter wirft sich in ihre Arbeit, ist kaum zu Hause. Schweigen. Das Nötigste. Dann wieder Schweigen.
Jacob trifft zum ersten Mal in der U-Bahn auf Luise und fragt sich, wie sich das wohl anfühlt: Ihre „Dreimillimeterfrisur“ in seinen Händen. Und auch Jacob hat eine Geschichte. Die mit seiner Familie und die mit seinem Bruder, mit dem er zusammen wohnt.
Irgendwann treffen all diese Menschen nach und nach aufeinander, öffnen sich, weichen zurück. Und warum passiert das? Weil Luise plötzlich Mails von Kristopher erhält. Die erste kommt an ihrem 16. Geburtstag. Er versucht, zu erklären, warum er getan hat, was er getan hat und kündigt an, ihr regelmäßig zu schreiben, um sich von ihr zu verabschieden. In Ruhe. (Und schon steigen mir Tränen in die Augen). Er wird Luise in den kommenden Monaten Aufgaben erteilen, die sie erledigen muss. Kein Schummeln, kein Weglassen, nichts dergleichen. Sie hat sich exakt an seine Vorgaben zu halten, die ihm wiederum der Fährmann aufgetragen hat. Erfüllt sie diese Aufgaben, wird der Fährmann Kristopher auf die andere Seite des Flusses bringen.
Alles endet mit einem bunten, fröhlichen, fulminanten Mexikanischen Fest für Kristopher an seinem Grab. So, wie es die Mexikaner machen. Mit Essen, Trinken und kleinen Geschenken. Das hätte Kristopher sehr gefallen.
Zum Buch schreibt Anne Freytag: „Wenn ich eines vom Schreiben gelernt habe, dann, dass jeder Roman eine Reise ist. Mit Höhen und Tiefen und Abkürzungen und Irrwegen. Ich habe selten so lange für einen Roman gebraucht. Fast sechs Monate. Manche Geschichten verlangen einfach mehr, sie fordern und überfordern. Doch wenn man dann das Ziel erreicht, ist das Gefühl einfach unbeschreiblich.“
Ich wünsche mir sehr viel mehr von dieser Autorin. Und sehr viel mehr Chancen für junge Menschen, die das Schreiben von Geschichten für sich entdecken. Dazu braucht es mutige Verlage, die sich nicht nur für Verkaufszahlen interessieren.
Bremen, 15. April 2018