Seit langer, langer Zeit wurde in jedem Jahr das jüngste Kind ausgesucht, um es der Hexe zu opfern. Dieses Opfer war wichtig, damit die Bewohner der Stadt am Randes des dunklen Waldes und des gefährlichen Sumpfes in Ruhe und Frieden leben konnten.
In diesem Jahr war es ein kleines Mädchen, mit dunklen Locken, tiefschwarzen Augen und einem Muttermal in Form eines Halbmondes. Als die Ältesten zum Haus der Familie kamen, geschah jedoch etwas Seltsames.
Normalerweise widersetzte sich niemand den Anordnungen der Ältesten. Normalerweise standen die Nachbarn bereits mit Schüsseln voller Pasteten und Gebäck bereit, um Vater und Mutter, dem Bruder und der Schwester den Abschied nicht so schwer zu machen. Normalerweise! Diesmal nicht.
Die Mutter des Mädchens gebärdete sich wie eine Wahnsinnige. Nur mit Hilfe einer Spezialeinheit der Schwestern des Sterns, gelang es schließlich das Kind zu erlangen. Die Wahnsinnige wurde im Turm eingesperrt, für eine lange Zeit und das Kind wurde, wie schon viele Kinder vor ihm, in den Wald gebracht um es der Hexe zu opfern.
Antain sah das alles mit gemischten Gefühlen. Er, der nur mit den Ältesten mitgehen durfte, weil der Ältestenratsvorsteher Gherland sein Onkel war, konnte nur mit Mühe die Tränen zurückhalten, als das kleine Mädchen auf dem Platz mit den fünf uralten Bäumen – merkwürdig, heute waren es sechs – seinem Schicksal überlassen wurde.
Sobald sich die feierliche Prozession zurückgezogen hatte, kam sie, die Hexe. Aber Xan war eine gute Hexe, die gemeinsam mit dem Wahrhaft Winzigen Drachen Fyrian und dem weisen Sumpfmonster Glerk lebte und in jedem Jahr das jüngste Kind nahm um es geradewegs in eine der Freien Städte jenseits des dunklen Waldes zu bringen. Dort hatten die Kinder ein sorgenfreies Leben. Sie wurden rechtschaffene, ehrliche und fröhliche Menschen.
Normalerweise brachte Xan die Kinder also auf direktem Weg zu ihrem neuen Zuhause. Normalerweise! Aber diesmal nicht.
Das kleine Mädchen hatte etwas so Besonderes an sich, das Xan hier einen kleinen Weg extra nahm und dort einmal im Kreis lief, fünf Schritte nach vorne ging um dann einen halben Kilometer zurückzurennen und damit die kleine zu Kräften kam, gab Xan ihr Mondlicht zu trinken.
Mondlicht ist ein besonderes Licht. Es ist magisch und so wurde die kleine Luna, wie Xan sie mittlerweile getauft hatte, magnifiziert. Am zehnten Tag ihres Weges schließlich beschloss Xan Luna mit zu sich nach Hause zu nehmen, und sie gemeinsam mit Fyrian und Glerk groß zu ziehen. So magisch, wie das kleine Mädchen war, konnte man es unmöglich zu den Menschen bringen. Und je älter sie wurde, desto unmöglicher wurde es, denn in Lunas Fußspuren wuchsen Blumen, egal wo sie ging, sie verwandelte Frösche in Vögel – sie war einfach pure Magie.
Habt Ihr Euch mittlerweile vielleicht gefragt, warum die Menschen seit langer, langer Zeit glaubten in jedem Jahr ein Kind opfern zu müssen, obwohl es doch gar keine böse Hexe gab? Ich kann es Euch sagen. Weil der Ältestenrat damit eine große, große Macht über die Menschen hatte. Sie waren gehorsam, gefügig, hatten keine Widerworte, keine eigenen Gedanken. Sie waren Marionetten in den Händen der Ältesten. Und das sollte für immer so bleiben.
Es wäre sicherlich auch immer so geblieben, hätte nicht ein mutiger junger Mann namens Antain, dem das kleine Kind zwischen den fünf – nein sechs – uralten Bäumen nicht aus dem Kopf ging, selber irgendwann einen kleinen Sohn bekommen. Gegen alle Widerstände machte er sich auf den Weg um der bösen Hexe gegenüber zu treten und entdeckte dabei diese einzige, riesengroße Lüge.
Ein Märchen, ist immer eine Geschichte, die uns die Augen öffnen soll. Alle Märchen gehen gut aus, das wisst Ihr. Die Bösen werden bestraft und die Guten leben bis ans Ende ihres Lebens glücklich und zufrieden zusammen. So ist es auch in diesem wundersamen, magischen Märchen von der guten Hexe Xan, dem mutigen Antain, einer wahnsinnigen, klugen Mutter und der kleinen zauberhaften Luna.
Bremen, 5. April 2018