Henry erschrickt. Unten im großen Flur von Hope House sind Schritte zu hören. Dabei hat sie doch extra so lange gewartet bis Nanny Jane ausgegangen ist, um Besorgungen zu machen. Niemand darf sie hier vor der Tür ihrer Mutter finden. Ihr Herz schlägt so gewaltig, dass man es bestimmt bis unten hören kann. Wo soll sie auf die Schnelle hin?
In ihrer Not drückt sich Henriette ganz an die Wand, damit auch nicht der Hauch eines Schattens von ihr zu sehen ist. Mit ihren Händen tastet sie über die glatte Holzvertäfelung. Zentimeter für Zentimeter schiebt sie sich weiter in die Dunkelheit. Doch was ist das? Auf einmal gibt die Wand hinter ihr nach und Henry kann gerade noch das Gleichgewicht halten. Eine enge Holztreppe führt hinauf ins Dunkle. Ohne lange zu Überlegen, betritt sie den vergessenen Gang und schließt die geheimnisvolle Tür hinter sich.
Fürs Erste ist sie in Sicherheit. Die schmale Treppe führt auf den Dachboden. Dort oben befindet sich ein Zimmer. Ein richtiges Jungenzimmer mit Büchern, verstaubten Modellschiffen und einer hölzernen Spielzeugtruhe. So ein Zimmer hatte ihr Bruder Robert auch. Aber Robert ist tot. Er ist bei dem großen Feuer in London ums Leben gekommen und es ist ihre Schuld.
Eigentlich soll alles besser werden, jetzt da sie von London weggezogen sind und in dem alten Herrenhaus ihr neues Zuhause gefunden haben. Aber nichts bessert sich. Ihrer Mutter geht es immer schlechter. Erst recht, seitdem Doktor Hardy für sie zuständig ist. Keiner darf mehr zu ihr, sie wird mit Tabletten ruhig gestellt und dann belauscht Henry noch ein Gespräch, indem es um Helldon geht. Helldon, die Nervenheilanstalt – dorthin soll ihre Mutter gebracht werden.
Das muss Henry unbedingt verhindern. Henrys Vater, der die Zustände Zuhause nicht mehr ausgehalten hat, ist beruflich viel unterwegs. Er scheint dem Doktor voll und ganz zu vertrauen. Auch Nanny Jane hält sich strikt an die Anweisungen des Arztes und die Tür zum Schlafzimmer der Mutter ist und bleibt verschlossen.
Bis zu dem Moment, an dem Henry an einen geheimnisvollen Schlüssel gelangt, der ihr die Tür zur Mutter öffnet. Hat Robert ihr geholfen oder vielleicht die merkwürdige Frau, die alleine in einem alten Wagen im Wald lebt?
Henry ist so damit beschäftigt einen Ausweg für sich und ihre Familie zu finden, dass sie erst im letzten Moment merkt, dass sie alle in höchster Gefahr schweben.
Bremen, 1. November 2017