Lieber Mr. John Smith,
was für ein gewöhnlicher Name für jemanden der nicht seine wahre Identität preisgeben will. Aber – wenn Sie gestatten, werde ich sie einfach Daddy Long Legs nennen.
Es hat mich außerordentlich gefreut, dass Sie mir die Möglichkeit geben aus dem engen, verstaubten Waisenhaus und vor allem aus den Fittichen der höchst unfreundlichen Mrs Lippett zu entkommen.
Wie Sie es wünschen, werde ich mein Möglichstes tun, um eine gute Schriftstellerin zu werden. Sagen wir mal – vielleicht sogar eine ausgesprochen gute Schriftstellerin.
Die Zugfahrt hierher war für mich schon ein kleines Abenteuer. Sie müssen wissen, ich bin noch nie mit dem Zug gefahren. Das sollten die anderen Mädchen hier aber nicht wissen. So manches Mal schauen sie mich nachdenklich von der Seite an. Und das nur, weil vieles mir so fremd ist.
Zur Zeit lese ich vier Bücher gleichzeitig. Kipling, Tennyson und stellen Sie sich vor „Betty und ihre Schwestern“. Tatsächlich bin ich wohl die Einzige auf der ganzen Schule, die nicht mit diesem Buch aufgewachsen ist.
Vielen Dank auch für das Taschengeld, dass Sie mir wieder reichlich haben zukommen lassen. Möchten Sie eigentlich, dass ich es für Kleider und Bänder, Hüte und Handschuhe ausgebe? Falls nicht, müssten Sie mir das freundlichst über Ihren Sekretär mitteilen lassen.
Natürlich wäre es auch außergewöhnlich liebenswürdig, wenn sie nur ein klitzekleines persönliches Lebenszeichen von sich geben würden. Ich weiß noch nicht einmal, wie sie aussehen. Sind sie groß oder klein, dick oder dünn, tragen Sie Glatze oder einen Bart?
Nun werde ich mich wieder meinem Studium widmen. Im nächsten Monat sende ich ganz bestimmt wieder einen Brief an Sie, um sie über meine Fortschritte gründlichst zu informieren.
Bien! Ihre zutiefst wahrheitsliebende
Jerusha Abbott
Gute Nacht!
Bremen, 20. Oktober 2017