Heute gibt es ein Geschenk! Ich biete Euch die Möglichkeit, mittels eines Buches durch Euer Lieblingsmärchen zu wandern. Halt. Nicht so schnell. Es gibt eine Regel. Auf gar keinen Fall dürft Ihr – auf absolut gar keinen Fall dürft Ihr den Ablauf der Geschichte stören oder verändern. Das wäre furchtbar. Alles klar. Also dann.
Amy verbringt den Sommerurlaub mit ihrer Mum auf dem Gut ihrer Großmutter. Auf einer einsamen Insel. Auf einer Insel, auf der nichts so ist, wie es scheint.
Was ist passiert? Ganz einfach. Sie laufen schon wieder weg. Genauer gesagt rennt Mum mal wieder weg und Amy muss mit. Ihr Freund hat sie verlassen. Einfach so. Also ist Heulen und Zähneklappern angesagt. Und Weglaufen. Amy ist nicht wirklich begeistert, denn eigentlich hat sie absolut keine Lust auf diese blöde Insel. Sie hätte besseres vor. Außerdem kennt sie ihre Großmutter nicht wirklich.
Das ändert sich, glaubt mir. Und zwar anders, als Amy es sich vorgestellt hat. Die Reise ist schon mal mehr als gewöhnungsbedürftig, das Wetter der reinste Weltuntergang, die Ankunft auf der Insel kurz vorm Ertrinken, das Anwesen ihrer Großmutter nicht wirklich Gemütlichkeit verbreitend, der Butler stocksteif und die Großmutter scheint nur die eine Augenbraue zu haben, die sie immer hoch zieht, wenn sie Amy anschaut.
Shocking, scheint sie sagen zu wollen. Nach ein paar Tagen der Eingewöhnung wird es besser. Eines Abends erfährt Amy zwischen Hauptgang und Nachtisch, dass sie zu den auserwählten Menschen gehört, die man die Buchspringer nennt. Buchspringer, erfährt Amy, sind Menschen mit einer besonderen Gabe. Anhand ihres Lieblingsbuches haben sie die Kraft, in Bücher zu springen und deren Geschichten zu erleben, die Figuren kennen zu lernen, ihnen zu folgen.
Einige wenige von ihnen haben eine weitere Gabe. Sie können von ihrem ausgewählten Buch aus in jedes andere Buch springen. Aber dafür, sagt man ihr, braucht man Übung und Ausdauer. Amy ist zwar eine Leseratte, glaubt aber zunächst immer noch an einen Scherz.
Komisch ist nur, dass ihre Mum das gar nicht lustig findet und ziemlich heftig auf ihre Mutter reagiert. Warum, wird sie später erfahren. Und Amy wird hellhörig. Hier scheint sich Spaß anzukündigen. Dass ihre Gabe alles andere als Spaß sein wird, merkt sie spätestens dann, als man sie zu der verborgenen unterirdischen Bibliothek führt.
Kurz und gut: Als Stadtkind ist Amy nicht wirklich geneigt, diesem Budenzauber zu erliegen, lässt sich aber auf die Bibliothek, die Lehrer und Schüler ein. Schon deshalb, weil es sie reizt, sich durch diese Unmenge von Büchern zu lesen. An ihrem ersten Tag erfährt sie, dass sie sich zum Buchspringen ein Buch aussuchen soll. Als Anfängerin bitte ein Kinderbuch. Die Geschichten seien nicht weiter gefährlich.
Amy wählt „Dschungelbuch“ als ihr Ausgangsbuch und das Abenteuer beginnt. Sie freundet sich mit Schir Khan an, hat in dem jungen Werther einen glühenden Verehrer, stellt sehr schnell fest, dass sie schon jetzt in der Lage ist, von Buch zu Buch zu springen. Das tut sie offiziell und immer dann, wann sie Lust hat. Niemand weiß das. Nur Will. Und weil sie das kann, fallen Amy mit der Zeit Dinge auf, die nicht zu den Geschichten passen, die sie kennt. Da scheint es etwas Böses zu geben, das die Geschichten verändert. Aber wer ist das?
Sie wird es herausfinden. Denn, soviel steht mal fest: Aus der Schatzkammer von Ali Baba verschwindet Gold, Sherlock Holmes wird tot am Strand gefunden und das wohl weltberühmtes Liebespaar der Weltliteratur aus „Stolz und Vorurteil“ wird nicht zueinander finden, wenn das so weitergeht.
Und als wäre das alles nicht schon schlimm genug, stiehlt jemand Passagen aus vorhandenen Büchern und verändert so deren Verlauf.
Warum, verrät die Person uns am Schluss des Buches: Alles, was sie will, ist ein eigenes Buch zu „schreiben“. Tja, wenn man keine eigenen Ideen hat, klaut man sie bei anderen Autoren. So würde man das heute nennen. Aber für diese uralten Geschichten wäre das fatal. Hat diese Person Hilfe? Natürlich. Sie manipuliert jemanden, der Amy nahe steht. Es sieht ganz so aus, als ob die Bücherwelt, wie wir sie kennen und lieben, nicht mehr zu retten ist.
Unverständlich, wie ruhig die Großmutter auf all das reagiert. Für Amy selbst wäre das in Ordnung, würde sich die alte Dame nicht hin und wieder äußerst merkwürdig verhalten.
Zu allem Unglück scheint sich Amys Mum in einen jungen Mann verliebt zu haben, der kaum älter ist als Amy selbst. Wie peinlich. Abgelenkt wird Amy von all dem durch ihre Sprünge durch die Bücher und durch ihre Zuneigung zu Will. Er ist seltsam hilfsbereit. Ob er etwas mit all dem Unheil zu tun hat?
Ich sage Euch, hier habt Ihr alles, was ein Sommerschmöker bieten muss. Eine Insel, auf der zwei alt eingesessene Familien sich schon seit Jahrhunderten streiten, eine unterirdische sehr geheimnisvolle Bibliothek mit tausenden Büchern, Menschen, die in der Lage sind, sich in den Geschichten von Büchern aufzuhalten, eine sehr böse Märchenfigur, die sich ihre eigene Geschichte aus Bruchstücken anderer Geschichten zusammen klaut und dabei jeden aus dem Weg räumen will, der ihr in die Quere kommt, eine Liebe, die schon Jahrhunderte alt ist und eine junge Liebe, die in einem Kinderbuch enden wird. Hat mir sehr gefallen!!
Bremen, 10. Juni 2016