Der Herrscher wartet jeden Morgen auf den betagten Dichter, der ihm, solange er denken kann, die allerschönsten Geschichten zu erzählen weiß. Auch heute ist er voller Erwartung. Der Dichter erscheint. In seinen Händen hält er ein kostbar eingebundenes Buch. Dieses Handwerk beherrscht die Frau des Dichters auf wunderbare Weise. Die beiden Männer begrüßen sich. Der eine, der Große Radscha, lächelt den anderen, den alten betagten Dichter Sastrawane Mandia gütig an, der wiederum seinen Herrn demütig und mit gefalteten Händen begrüßt und ihm seine Morgengabe überreicht. Das Buch.
Erwartungsvoll beginnt der Herrscher, darin zu blättern. Je mehr Seiten er umblättert, desto wütender wird er. Ob er sich über ihn lustig machen wolle, fragt er den Dichter. Wütend ist er, weil er den Sinn der leeren Blätter nicht versteht.
Aber Sastrawane Mandia erklärt es ihm. Er erzählt seinem Herrn von seiner Begegnung mit diesem herrlichen Vogel, der eine blaue Kugel in seinem Schnabel getragen hat. Mit seinem Schnabel pickt er eine Vertiefung in die Erde und legt die blaue Kugel vorsichtig hinein, bedeckt sie mit Erde. Wie von magischer Hand bekommt die Erde Risse. An genau der Stelle, wo der Vogel die blaue Kugel in die Erde gelegt hat.
Erst ist es ein Zweig, dann ein Ast, dann ein kleiner Baum, dann einer, der immer größer wird. Der Baum trug keine Früchte und keine Blätter, wie wir sie kennen. Dieser Baum trug unbeschriebene Blätter, genau dieselben, die der Dichter immer verwendet hatte, um Geschichten für seinen Herrn aufzuschreiben.
Erschöpft und überglücklich und verwundert lehnt sich der betagte Dichter gegen den wunderbaren Baum und schläft ein. Träumt. Von unbeschriebenen Blättern, die Geschichten erzählen, sobald man sie durchblättert. Vom Leben um ihn herum. Von Magie und von Wundern.
Als er erwacht, weiß er, dass der geheimnisvolle Vogel ihm den Weg zur Traumquelle gezeigt hat. Vorsichtig sammelt er die Blätter des Baumes ein, die um ihn herum wehen und geht zurück zu seinem Haus. Hinter ihm verschwindet der magische Baum. Zurück bleibt eine blaue Kugel, die dieser wundersame Mondvogel wieder an sich nehmen würde.
Der Große Radscha hat seinem betagten Dichter zugehört. Er hatte ihm gerade die Geschichte des Buches erzählt. Und er verstand. Das war sein Abschiedsgeschenk an ihn. „Wenn dir eines Tages meine Geschichten fehlen werden, wirst du dieses kleine Buch durchblättern können. Es enthält schlafende Geschichten. Alles, was du tun musst, ist, deine Augen zu schließen, Herr“ sagte der alte Mann. Mit diesen Worten ging er fort.
Er hatte seinem Herrn einen wahren Schatz hinterlassen. Eine blaue Kugel und unbeschriebene Blätter.
Bremen, 15. November 2015