Nach der letzten gelesenen Seite vor knapp einer halben Stunde entspannt sich mein Magen und der Knoten, der sich über 383 Seiten gebildet hat, löst sich langsam.
Die Wucht dieser Geschichte hat mich mit der ersten Seite erfasst und so lange in den Sessel gedrückt, bis ich alles über Clare, Peter und Luke wusste. Dabei hat sich in mir eine derartige Wut aufgebaut, die in dem Satz gipfelte: „Mit solchen Eltern brauchst du keinen Feind!“
Es ist schon schlimm genug, dass es Menschen gibt, die sich ihre kleine heile Welt zaubern, ihr Familienskelett mitsamt seinen kleinen und großen Lebenslügen im Wandschrank einschließen, aus Angst, das alles könnte entdeckt werden.
Die Eltern von Clare, Peter und Luke haben das perfektioniert! Nichts dringt nach draußen. Alles bleibt in der Familie. Wären da nicht Lukes Gefängnisaufenthalte, von denen jeder in der Kleinstadt weiß und die Familie entsprechend behandelt.
Egal. Nach außen sehen wir eine intakte Familie mit allem, was das Klischee hergibt. Aber wehe, wenn sich die Haustür hinter den Protagonisten schließt. Dann erkennen wir „Die Mitte von allem“. Und das ist eindeutig alles, was mit Luke zu tun hat. Luke, der immer mal wieder im Gefängnis landet, weil er angeblich „zur falschen Zeit am falschen Ort war“.Das ist die Wahrheit, mit der Clares Fragen nach der zeitweiligen Abwesenheit ihres großen Bruders beantwortet werden, seit sie Fragen stellen kann.
Beim Lesen schauen wir abwechselnd zurück und in die Jetzt-Zeit und erkennen diese unglaubliche Abwärtsspirale, auf die die Eltern Clare und Peter mit ihrem unverzeihlichen Verhalten zu bewegen, weil sie nicht wahrhaben wollen, auf welch skrupellose Weise Luke jeden von ihnen manipuliert und für seine schmutzigen Zwecke ausnutzt, wohl wissend, dass er sich der blinden Liebe seiner Schwester Clare und vor allem der seiner Mutter sicher sein kann.
Je mehr ich in die Geschichte eintauchte, desto mehr verspürte ich den Wunsch nach diesem Schwert, das diesen kaum auszuhaltenden Spannungsbogen aus Lügen und Betrügen durchschlägt, dass alle endlich ihr Gehirn einschalten. Dass Clare endlich erkennt, dass sie bis zu ihrem 18. Lebensjahr belogen worden ist, was Luke betrifft. Und dass Luke endlich die Strafe erhält, die er mehr als verdient hat.
Keine Sorge, all das passiert. Ehrlich gesagt, hat Anna Shinoda sich damit ziemlich viel Zeit gelassen. Aber das war gut so. Das war die Zeit, in der sich mein Magen verknotet hat und meine Wut auf diese ganz offensichtlich uneinsichtige Mutter und ihren verblendeten Mann immer größer wurde. Darauf, dass die beiden, ohne mit der Wimper zu zucken, ihre beiden anderen Kinder opfern würden, um Luke und ihren „Ruf“ zu schützen.
Jemand im Umfeld von Anna Shinoda hat gesagt, dass sie sich schriftstellerisch noch steigern könne. Wenn man „Die Mitte von allem“ schon kaum aushalten kann, was kommt denn dann noch auf uns zu?!
Großartig! Unbedingt lesen!
Bremen, 27. April 2015